Als der Bärtige seine Geschichte beendet, brach Melchior das Schweigen der Runde und begann zu erzählen.
In der vergangenen Nacht träumte ich einen seltsamen Traum.
Ich irrte durch endlose Gänge, fahles Mondlicht schimmerte durch rundbogige Fenster. Treppauf treppab. Und unzählige Türen. Ich ergriff diese Türklinke und dann jene, eine dritte und vierte... Alle verschlossen. Wo bin ich hier? Mein Schrei verhallte an steinernen Wänden ...
Suchen Sie etwas, mein Herr?
Ich suche meinen Schlüssel, Herr Portier.
Ich habe viele Schlüssel, mein Herr.
Da: Große und kleine, Hausschlüssel, Zimmerschlüssel, Nachschlüsse, Schließfachschlüssel, Mehrfachschlüssel, Patentschlüssel, Sicherheitsschlüssel, Tresorschlüssel, Tabernakelschlüssel... Viele tausend Schlüssel...
Ich suche meinen Schlüssel, Herr Portier.
Wie ist der Code, mein Herr?
Der Code. Wie war noch mein Code? Ich wußte ihn doch einmal ...
Ich habe den Code vergessen, Herr Portier.
Es tut mir leid, mein Herr.
Ich war in einem hohen Saal.
Stuck überall, Säulen und gläserne Lüster.
Ich stand nackt - und meine Sachen im Schließfach - aber die Sache mit dem Schlüssel hatten wir schon...
Ich hielt inne. Auf einmal war alles erfüllt von einem Atmen.
Es war wie das Atmen des Schlafenden.
War es neben mir, oder kam es von oben, von unten?
Es schwoll an. Luft und Mauern und Säulen und Lüster schwangen im Rythmus des Atems.
Als ich den Blick hob, sah ich fünf Gestalten am anderen Ende des gläsernen Saales.
Eine in Richterrobe,
die zweite mit Doktorhut und im Talar,
die dritte in Generalsuniform mit glitzernden Orden,
die vierte in Kardinalspurpur mit Stab und Mitra,
die fünfte in feinem Zwirn, mit Aktenkoffer und dicker Zigarre Marke DM.
Sie hüpften in einem merkwürdigen Rythmus, nebeneinander, die Hände einander über die Schulter gelegt, ja, im Rythmus der Echternacher Springprozession, nach Polkamelodie in Wechselschritten kurz-kurz-lang.
So hüpften sie auf mich zu und sangen und sprachen im Sprechchor, ja in bestem Freestyle Rap:
Wir sind die fünf von der Wach- und Schließgesellschaft
ge em be ha
ha ha ha ha
Wir wachen und schließen und wachen und schließen
und wachen über das Schloß.
Alles ist schlüssig,
beschlossen in unseren Ratschlüssen,
wir haben die Schlüsselgewalt,
was wir beschließen, ist verschlossen.
Wir sind die fünf von der Wach- und Schließgesellschaft
ge em be ha
ha ha ha ha
Wir haben die Gewalt über die Schlüssel,
den Schlüssel des bronzenen Tores zum Garten Eden,
es bleibt verschlossen für ewige Zeiten.
Den Schlüssel der silbernen Pforte zum Herzen der Schloßfrau -
nie wirst Du ihn finden.
Den Schlüssel der goldenen Türe zum Hause Gottes.
Der Sinn ist verschlossen.
Wir haben Gott hinter Schloß und Riegel gebracht
in den Gruften des Schlosses.
Wir sind die fünf von der Wach- und Schließgesellschaft
ge em be ha
ha ha ha ha
Wie in alten Zeiten, als Engel in Träumen erschienen,
sprach zu mir eine Stimme:
Steig in den Schloßteich, tauch hinab zur tiefsten Tiefe
Suche den Fisch des Jona!
Im Bauch des Fisches wirst Du finden den Code.
Und ich tauchte hinab in die Tiefe,
das Lied des Jona im Herzen:
"... Du warfst mich in die Tiefe, mitten in´s Meer,
die Fluten erfaßten mich...
Zu der Berge Gründen sank ich hinab,
der Erde Riegel schlossen auf ewig mich ein..."
Da vor mir, gründelnd in den Tiefen des Teiches der riesige Fisch,
starr auf mir sein vieläugiger Blick...
Da wachte ich auf. Verdammt. Verpennt.
Der Tag fängt ja schon gut an.
Soweit der Traum des Melchior, 1981,
mir übergeben zur getreuen Niederschrift
Aber bitte - O-Ton Melchior - mit Smiley
Sonntagmorgen. Anruf. Melchior am Apparat.
Du, ich brauch keinen Traum mehr. Als frommer Christ schlag ich das "Gotteslob" auf und lese:
"O Heiland reiß die Himmel auf ... Reiß ab vom Himmel Tor und Tür, reiß ab wo Schloß und Riegel für."
Dann adé ge em be ha
ha ha ha ha
NH
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